
(Source: Samantha Morra)
Basierend auf Erkenntnissen der Hirnforschung (Damasio 1999) und weiteren interdisziplinären Studien hat sich die pädagogische Forschung im letzten Jahrzehnt verstärkt der Bedeutung von Emotionen für das Lernen zugewandt. Pekrun (Pekrun 1992), Astleitner (Astleitner 1999), Giessen (Giessen 2009) und andere konnten die sehr häufig unterschätzte Rolle menschlicher Emotionen auf Lernprozesse nachweisen, eine Bedeutung, die nach wie vor im Unterrichtsalltag und im E‑Learning vernachlässigt wird. In diesem Zusammenhang wird auch zunehmend der Einfluss von Lernendengruppen (Siemens 2004) und von Lernräumen (Eigenbrodt & Stang 2014) untersucht.
Auch die Erkenntnisse über die Bedeutung von Geschichten und Narrativität für die Erinnerung (Markowitsch & Welzer, 2005), Motivation und menschliche Selbstwahrnehmung (McAdams 1996) in Lernprozessen bieten hilfreiche Impulse für das institutionelle und informelle Lernen: Vor der Auseinandersetzung mit dem autobiographischen Gedächtnis (Markowitsch & Welzer, 2005), also der Fähigkeit des Menschen, Erinnerungen über das eigene Erleben zu speichern, wird deutlich, dass dazu Erzählungen eine entscheidende Rolle spielen, weil sie sowohl Erlebnisse semantisch bewerten als auch eine Kohärenz über unterschiedliche Situationen und Lebenslagen herstellen (2005, p. 43). Schacter (Schacter 2001) und Sacks (Sacks, Gunsteren, Sacks, & Sacks, 2010) haben nachgewiesen, dass die Klammer der Erinnerungen an biographische Erlebnisse jeweils die eigene Lebensgeschichte konstruiert und zu einer Gesamtheit werden lässt, die dem Individuum die Welt als sinnhaft, beständig, eindeutig und auch wertvoll erleben lässt. „Jeder von uns hat eine Lebensgeschichte, eine Art innerer Erzählung, deren Gehalt und Kontinuität unser Leben ist. Man könnte sagen, dass jeder von uns eine »Geschichte« konstruiert und lebt. Diese Geschichte sind wir selbst, sie ist unsere Identität.“ (2010, p. 154) Auch McAdams geht so weit, dass er das Leben eines Menschen als dessen eigene mythologische Erzählung beschreibt (McAdams 1996, p. 35), und den menschlichen Geist in seiner Grundstruktur als „narrative mind“ (1996, p. 28) versteht (Gardner & Drolshagen, 1989; Sarbin 1986; Landau 1984; Howard 1989; Landau 1984; Sarbin 1986).
Besonders interessant an diesem Merkmal ist die Tatsache, dass die Geschichten des erzählenden Geistes einen mythologischen Charakterhaben, also eine archaische Grundstruktur, die aus „symbolischen Episoden“ (Kotre 1998, S. 127) besteht, wie wir sie auch aus religiösen Geschichten, Romanen und Filmen kennen. Der Mythenforscher Joseph Campbell ist in seiner Analyse der Mythen der Menschheit (Campbell 1993) zu dem Ergebnis gekommen ist, dass es universelle Grundstrukturen in den mythologischen Erzählungen aller Völker und Kulturen der Welt gibt, die wir als Menschen miteinander teilen. Mythologie ist „eine innere Landkarte von Erfahrungswelten […], gezeichnet von Menschen, die sie bereist haben“ (Campbell 1994, S. 10). Diese Muster haben etwas mit unserer Ontologie zu tun, mit den existentiellen Erfahrungen von Geburt und Tod, Krankheit und Bedrohung, Glück und Trauer, Angst und Geborgenheit und der Frage nach dem Sinn des Lebens. Und genau diese Fragen tauchen in den Geschichten der Menschheit auf, unabhängig von Zeit, Ort und Kultur. Diese Geschichten werden verstanden, weil sie existentiellen Fragen behandeln, die alle Menschen miteinander teilen (Campbell 1996).
Vor diesem Hintergrund setzt sich die pädagogische Forschung und Praxis zunehmend mit der Frage auseinander, wie sich Geschichten in den Unterricht, ja überhaupt in Lernprozesse integrieren und effektiv nutzen lassen. So weist Giessen (Giessen 2009) auf die Bedeutung der Einbeziehung „emotionaler, handlungsorientierter, sozialer oder narrativer Methoden im Unterrichtsprozess“ (Giessen 2009, p. 7) hin und betont die Bedeutung der Narration auf Lernprozesse, die weit über ein Auswendiglernen hinausgehen und transferorientiertes Handlungswissen ermöglichen sollen. Neben der Tatsache, dass Methoden die die Freude am Lernen fördern, nachweislich ein nachhaltiges Lernen erwirken, werden zudem wichtige „Zukunfts- oder gar Alltagstechniken wie kollaboratives Arbeiten“ erworben, die „eine bessere Vorbereitung auf die Lebenswirklichkeit“ (Giessen 2009, p. 9) ermöglichen.
Domagk und Niegemann (Domagk & Niegemann, 2009) weisen in einem den Forschungsstand zusammenfassenden Artikel auf die hohe Relevanz der Bedeutung von Emotionen auf das Lernen hin und verweisen auf das große Potenzial von „serious games“ und „Storytelling“.
Elemente einer Geschichte
Der Mythenforscher Joseph Campbell hat sich intensiv mit Geschichten in unterschiedlichsten Kulturen auseinandergesetzt und kommt zu dem Ergebnis, dass die Struktur von Geschichten in allen Kulturen und zu allen Zeiten die gleiche ist: die Reise des Helden.
Es gibt immer einen Protagonisten, der auf irgendeine Weise einer Herausforderung begegnet, sei es eine Gefahr oder die Aussicht auf Belohnung, und der sich daraufhin auf eine Reise begibt und verschiedenste Abenteuer erlebt, bis er zu seinem Ziel kommt. Schließlich findet er den Schatz, die Prinzessin, das Elixier und kehrt damit verändert zurück. Christopher Vogler hat Campbells Analysen weiterentwickelt und kommt in seinem Buch The Writer´s Journey zu dem Schluss: »Derartige Geschichten spiegeln eben die Funktionsweise des menschlichen Geistes genau wider; sie sind getreue Pläne der Seele. […] Daraus ergibt sich die universelle Kraft solcher Geschichten. Von einer Geschichte, die dem Modell der Reise des Helden nachgebildet ist, geht etwas aus, das alle Menschen empfinden können, weil es dem universellen kollektiven Unterbewussten entspringt und universelle Befindlichkeiten widerspiegelt. In solchen Geschichten geht es immer wieder um die universellen, kindlichen Urfragen: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich, wenn ich sterbe? Was ist gut, was ist böse? Und was hat das mit mir zu tun? Wie wird das Morgen aussehen? Und wohin ist das Gestern entschwunden? Gibt es sonst noch jemanden da draußen?« (Vogler, Die Odyssee des Drehbuchautors, S. 52)
Neben dem Helden – es kann auch eine Heldin oder eine Gruppe sein – gibt es in Geschichten auch weitere typische Charaktere, die für bestimmte Prinzipien stehen und die Geschichte vorantreiben. Da wäre beispielsweise der Widersacher (Antagonist), dessen Aufgabees ist, den Helden herauszufordern, ihn zum Handeln zu zwingen. Sehr häufig gibt es auch einen Mentor, eine Art Lehrer, der dem Helden wichtige Hinweise gibt und ihn väterlich begleitet. Eine weitere wichtige Figur ist der Schwellenhüter; er steht in wichtigen Situationen auf dem Weg und versucht, den Helden am Weitergehen zu hindern. Der Schwellenhüter steht für Widerstände und schwierige Situationen. Aber eigentlich will er besiegt und überwunden werden. Der Trickster ist die Figur, die gerne Unordnung in die Geschichte bringt. Er macht Späße, hat ein anarchisches Potenzial und stellt auch immer wieder Dinge infrage. Die Aufgabe des Tricksters ist es, einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen, um eine Situation noch einmal aus einer ganz anderen Sicht zu betrachten. Der Chor kommentiert das Geschehen und bietet Erklärungen und Interpretationsmöglichkeiten an. Gefährten begleiten den Helden auf seinem Weg, stehen ihm bei und bieten wichtige Hilfe. Neben diesen hier angeführten Figuren gibt es noch einige weitere. Wichtig ist, dass die Figuren für Prinzipien stehen, die die Geschichte vorantreiben und uns als Rezipienten Identifikationsmöglichkeiten bieten.
Neben archetypischen Figuren gibt es in Geschichten auch immer wieder Orte, die eine bestimmte Funktion haben. Auch davon seien hier nur ein paar Beispiele genannt:
Das Heim des Helden ist sehr häufig der Rückzugsort, der der Erholung und Reflexion dient. Ein anderer Ort ist die Arena, in der der Kampf mit dem Gegner stattfindet. Die Wüste und der Dschungel stehen für ein schwieriges Gebiet der Reise und verwirren durch ihre Kargheit (Wüste) oder Üppigkeit (Dschungel). Die Brücke des Todes führt über ein tiefes Tal auf die andere Seite, die einen Fortgang der Geschichte markiert und für ein neues Niveau steht. Vor ihr steht sehr häufig einen Schwellenhüter. Auf dem Gipfel des Berges gibt es Klarheit und Erkenntnis, häufig auch die Begegnung mit Gott. Im tiefsten Verließ ist die Prinzessin gefangen oder der Schatz versteckt. In der Höhle des Löwen findet die Auseinandersetzung und der endgültige Kampf mit dem Bösewicht statt. Schließlich sei noch das Siegerpodest genannt, das für den Triumph des Helden steht.
Das Verständnis der Prinzipien und Zutaten einer Geschichte hilft uns dabei, eine Geschichte zu konstruieren. Indem wir eine Geschichte erfinden, können wir das, was gelernt werden soll, in diese integrierten und Lernern helfen, sich mit dem Lernstoff auseinanderzusetzen. Dabei geht es nicht nur um das Erlernen von Details, sondern vor allem um das Erkennen von Zusammenhängen, die Auseinandersetzung mit einer Thematik und der Reflexion.
Neben der Ebene, eine Geschichte dafür einzusetzen, sich mit einem Thema zu befassen, bietet die Geschichte noch eine zweite Dimension: Der Lernprozess selbst kann als Heldenreise verstanden werden, und das Schlüpfen in die Rolle eines Helden kann es Lernern erleichtern, sich mit schwierigen Situationen auseinanderzusetzen. Das Studium kann so eine andere Bedeutung erhalten und Schwierigkeiten lassen sich als Schwellenhüter verstehen, die es zu überwinden gilt, um ein neues Level zu erreichen. Auch die Figuren können einen didaktischen Charakter haben. Der Mentor als Berater ist dabei noch die eindeutigste Funktion.